Körperliche Aktivitäten, Sport und Bewegungstherapie

Foto von Dr. Freerk T. BaumannKrebsmagazin – Ausgabe Dezember 2010
Interview mit Dr. Freerk T. Baumann, Deutsche Sporthochschule Köln, Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin, Abteilung für molekulare und zelluläre Sportmedizin, Köln

„Sport bei Krebs“ ist in den zurückliegenden Jahren zu
einem ganz wichtigen Thema geworden, woran liegt das?

Der Begriff Sport bei Tumorerkrankten wird bei uns nicht so gerne gewählt. Unser Ziel ist es den therapeutischen Effekt und die therapeutischen Auswirkungen von allgemeiner Bewegung zu nutzen. Deswegen reden wir lieber von körperlichen Aktivitäten oder Bewegungstherapie, die die Patienten daher so früh wie möglich durchführen sollten.

Wo liegt der eigentliche Wert von körperlicher
Betätigung bei Krebs aus Sicht des Erkrankten?

Es gibt drei wichtige Ebenen. Doch grundsätzlich ist Bewegung und körperliche Aktivität zunächst einmal unabhängig vom Tumorstatus möglich, egal ob es sich um Patienten handelt, die gerade ihre erste Chemotherapie erhalten, bei Patienten, die sich bereits in der Nachsorge oder Rehabilitation befinden oder Patienten in einem stark fortgeschrittenen Stadium. Bewegung hat Einfluss auf drei Ebenen und das gleichzeitig:

1. Auf den Körper und physiologische Komponenten: Hier können wir zwischenzeitlich auch zelluläre Mechanismen nachweisen
2. Die große Komponente der Psyche: Bewegung ermöglicht es, das Selbstvertrauen zu verbessern, aber auch Ängste und Depressionen zu lindern
3. Die soziale Komponente: Sport und Bewegung kann, wenn man dies nicht alleine durchführt, auch das soziale Befinden deutlich verbessern.

Wann sollten denn Krebspatienten mit sportlichen Aktivitäten beginnen?
Je dichter die Bewegungstherapie an die Diagnosestellung rückt, desto individueller und spezifischer sind die Inhalte körperlicher Aktivität. Ein Patient der beispielsweise kurze Zeit nach seiner Diagnosestellung operiert wird, sollte professionelle Betreuung einfordern und denArzt nach einer geeigneten physiotherapeutischen Hilfe fragen, um dann individuell an die ersten Mobilisationsübungen sowie eine erste Aufklärung zu gelangen. Grundsätzlich sollte man sich erst einmal durch einen wirklich erfahrenen Physiotherapeuten aufklären lassen. Erfahrung ist deswegen so wichtig, da es bislang keine Leitlinien und Richtlinien hierfür im Bereich von Tumorerkrankungen gibt. Je länger dann die medizinische Behandlung vorbei ist, um so allgemeiner kann man dann auch die Bewegungsoder Sportarten wählen. Wir empfehlen beispielsweise bereits 24 Stunden nach einer Operation wieder eine Mobilisierung aus dem Bett durchzuführen. Unser großes Ziel ist es, Kraft und Ausdauerfähigkeit sowie bestimmte Stoffwechselvorgänge durch körperliche Aktivitäten aufrechtzuerhalten. Auch möchten wir die durch den Bewegungsmangel bedingten Begleiterkrankungen wie Thrombosen, Lungenentzündungen, Infektionsrisiken und auch bestimmte negative Immunantworten entgegen wirken.

In der Medizin wird derzeit die personalisierte Medizin in den Vordergrund
der Therapie gerückt, gilt das auch für Sport und Bewegung bei Krebs?

Wir sind im Moment dabei, die aus der Medizin bekannte Begrifflichkeit „personalisierte Medizin”, also der großen Individualisierung, auf die Bewegungstherapie zu übertragen. Bewegung gilt entsprechend der individuellen Situation des Patienten auch individuell zu definieren und das hängt von unterschiedlichen, persönlichen Komponenten ab, die dabei zu berücksichtigen sind.

- Welche Tumorerkrankung ist es?
- Wie war und ist die medizinische Situation?
- Was gab und gibt es für Nebenwirkungen und Auswirkungen der Tumorerkrankung?
- Welchen persönliche, individuelle Hintergrund, welche Neigungen und Interessen möchte der Patient vielleicht durchführen und wozu hat man einen bestimmten Bezug
- Wozu ist man vielleicht bei fortgeschrittenen Erkrankungen noch im Stande?

Ist es nicht für Menschen schwer, ihre Gewohnheiten
zu verändern und auf einmal sportliche Aktivitäten zu entfalten?

Wie sieht es mit der Motivation aus? Aus unseren Erfahrungen – und das belegen auch inzwischen die ersten Studien – ist es so, dass Tumorpatienten grundsätzlich eine hohe Motivation mitbringen, an einem Trainingsprogramm teilzunehmen. Es ist auch interessant zu beobachten, je morbider, also kranker die Patienten sind, um so höher ist auch ihre Motivation. Dies konnten wir auch in Studien bei aggressiven Chemotherapien feststellen; da haben uns die Leute, die ihre Teilnahmebereitschaft bekunden wollten, förmlich „die Türen eingelaufen“. Es ist jedoch zu beobachten, dass schätzungsweise 30% der Patienten, die vorher ausgesprochene Sportmuffel waren, durch die Tumorerkrankung eine Chance sahen, aktiv zu werden. Und ihre Motivation wurde geweckt, um auch auf Dauer, langfristig Sport oder bewegliche Aktivitäten durchführen.

Wie bewegt man schwer erkrankte Patienten zu körperlicher Aktivität?
Das Entscheidende ist, dass man dem Patienten nicht einfach nur eine Broschüre an die Hand geben kann, in der alles beschrieben steht. Patienten müssen darüberhinaus angeleitet und aufgeklärt werden und sie müssen eine gewisse Sicherheit bekommen. Diese gewonnene Sicherheit ist ein ganz zentrales Element. Weil durch die Tumorerkrankung viele Patienten erst einmal ohnehin verunsichert sind und das Vertrauen in ihren Körper verloren haben sowie belastenden medizinische Therapien über sich ergehen lassen, machen viele erst einmal nichts und schonen sich. Eine in dieser Situation gut geführte Aufklärung und Begleitung in der Bewegungstherapie führt bei vielen Patienten jedoch zu der Feststellung: „Das tut mir gut und schadet mir nicht!“ Danach beginnen die Patienten in der Regel ein eigenes Motivations-Schema aufzubauen und führen selbständig Bewegung durch. Wenn diese Sicherheit gegeben ist, erleben sie diese Sicherheit als so erfolgreich, dass wirklich ein größerer Teil nachhaltig und langfristig aktiv bleibt.

Was ist mit Patienten, die diese Sicherheit nicht gewinnen?
Patienten, die diese Sicherheit und damit das Zutrauen in ihren eigenen Köper gewonnen haben, die nicht aufgeklärt wurden und für die man sich keine Zeit genommen hat, können in der Nachsorge über Jahre hinaus verunsichert bleiben. Patienten, die beispielsweise vor ihrer Erkrankung gerne Aktivurlaub durchführten, nehmen diesen dann nicht mehr wahr, das Sozialleben in Gesellschaft und Vereinen wird dann ebenfalls vernachlässigt. Dabei reicht manchmal ein ganz einfaches Gespräch nach einer vorher durchgeführten Leistungsdiagnostik aus, vielen Patienten zu vermitteln, diese oder jene Aktivität betreiben zu können. Häufig ist es einfach nur diese Aufklärung, die Patienten diese Sicherheit gibt, damit sie aktiv werden.

Die Erfahrung und das Erfolgserlebnis schaffen
dann Mut, weiter zu machen und bieten Motivation?

Es ist die Verbesserung des Selbstwertgefühles und das zurückgewonnene Vertrauen in den eigenen Körper. Faszinierend ist, dass dieses zurück gewonnene Selbstvertrauen sich dann auf den gesamten Alltag, die Aktivitäten Zuhause im Haushalt, mit der Familie, im Beruf, mit Freunden sowie auch auf das soziale Umfeld überträgt.

Wie schaut es denn mit körperlichen Aktivitäten unter Medikamentengabe aus?
Nach neuesten Erkenntnisse ist es möglich, bereits während der Chemotherapie, aber auch unter einer Antikörpertherapie körperliche Aktivitäten durchzuführen. Für viele Patienten die eine Chemotherapie oder auch eine Antikörpertherapie erhalten, ist es möglich und auch empfehlenswert, körperliche Aktivitäten durchzuführen, sofern die medikamentöse Therapie gut vertragen wird. Erste Untersuchungen zeigen, dass die Nebenwirkungen verschiedener Medikamente durch körperliche Aktivitäten reduziert werden können. Ihnen bleiben vielleicht die Komplikationen nicht erspart, aber aktivere Menschen können mit den Nebenwirkungen zumindest besser umgehen.

Würden Sie Darmkrebspatienten bestimmte Übungen empfehlen?
Wie eingangs kurz erwähnt, sollte man abhängig von der jeweiligen Tumorerkrankung eine individuelle Bewegungstherapie definieren. Bei Darmkrebserkrankungen tauchen häufig krankheitsspezifische Besonderheiten auf, die man bei keiner anderen Tumorerkrankungen beobachten kann:
- Zum einen wird der Betroffene – sofern er operiert wurde – einen Bauchschnitt bekommen haben
- Nicht wenige haben darüber hinaus ein Stoma (künstlicher Darmausgang),
was ebenfalls individuell berücksichtigt werden muss. Infolgedessen kommt es häufig zu folgender Reaktion: Der Patient begibt sich in eine „Schonhaltung“ und beugt sich mit seinem Bauchbereich nach vorne. Auch kommt es zu einer Verkürzung der Bauchmuskulatur sowie zu einer Streckung der Rückenmuskulatur wodurch viele Patienten wiederum Rückenschmerzen bekommen. Bei solch krankheitsspezifischen Elementen können wir mit Kräftigungsübungen den Rücken stärken und mit Dehnübungen die Bauchmuskulatur dehnen und – sofern ein Stoma getragen wird – darauf achten, das die Patienten nicht zu viel auf dem Bauch liegen.

Im Rahmen sportlicher Aktivitäten sollte man heftige Übungen mit hohen Belastungsspitzen zunächst vermeiden und hier eher auf moderate Bewegung eingehen. Patienten mit einem Stoma können zum Beispiel durchaus schwimmen gehen. Es sind sämtliche Bewegungsformen und Sportarten möglich, wenn sie in irgendeiner Weise das Stoma und den damit verbundenen Übergang der Narbe gefährden wie sie beispielsweise durch Einrisse, durch Körperkontakt zu anderen Sportteilnehmern oder durch hart geschossenen Bälle entstehen können. Grundsätzlich kann man daher Darmkrebspatienten moderate Bewegungsformen und Krafttraining empfehlen, an denen man auch nachhaltig Spaß hat. Dies gilt übrigens für jeden Menschen. Derjenige, der keine Freude an einer Sportart findet, wird diese nie und nimmer auch langfristig aufrecht erhalten.

Gibt es Literatur und konkrete Hilfen für interessierte Darmkrebspatienten?
Wir haben zunächst einmal Broschüren geschrieben wie beispielsweise die Broschüre „Sport und Bewegung bei Darmkrebs“ der Firma Amgen, die man kostenlos über die Homepage http://service.amgen.de/Public/ Krebs/Broschueren.html bestellen kann

Oder den Blauen Ratgeber der Deutschen Krebshilfe: „Bewegung und Sport bei Krebs“ der ebenfalls entweder über die Homepage der Deutschen Krebshilfe
 http://www.krebshilfe.de/material-fuer-betroffene.html oder unter
Telefon: 02 28/7 29 90-0 abgerufen werden kann.

Beide Publikationen enthalten wichtige Hintergrundinformationen,
konkrete Anleitungen, Tipps und wichtige Kontaktadressen.

Kann man bei Ihnen an der Sporthochschule
als Krebspatient auch vorstellig werden? 

Nicht selten kommt es vor, dass Patienten hier anrufen und gerne eine Empfehlung haben möchten. Sie möchten Trainingsempfehlungen, eine Leistungsdiagnostik sowie einen Trainingsplan erhalten. Leider gibt es so etwas noch nicht oder kostenlos auf Rezept. In ganz Deutschland besteht meiner Meinung nach an dieser Stelle eine große Versorgungslücke. Wir arbeiten hier in Köln derzeit an einem Konzept, das vorsieht, genau eine solche kostenlose Anlaufstelle für Patienten zu schaffen, in der spezielles Fachwissen aus dem onkologischen Bereich mit entsprechendem Training und Bewegungstherapie kombiniert werden. Im nächsten Jahr beginnen wir mit dem Projekt und wünschen uns, dass sich dies dann auch auf andere Städte überträgt. Von vielen Seiten erfahren wir hier derzeit große Unterstützung. Wir hoffen, dass auch die Kostenträger sich von den Vorteilen dieser Bewegungsprogramme schon bald überzeugen lassen, damit immer mehr Patienten mehr ambulant und weniger stationär behandelt werden können.

 

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