Im HIER und JETZT…

Bild mit TürOktober 2012
Dr. Iris Huth

Hilfen und Anregungen für ein bewusstes Leben
„Das Tagesgeschenk“
 „Stell dir vor, jeden Morgen stellt dir deine Bank 86.400 Euro auf deinem Konto zur Verfügung. Du kannst den gesamten Betrag an einem Tag ausgeben. Allerdings kannst du nichts sparen. Was du nicht ausgegeben hast, verfällt. Aber jeden Morgen, wenn du erwachst, eröffnet dir die Bank ein neues Konto, mit neuen 86.400 Euro. Außerdem kann die Bank das Konto jederzeit ohne Vorwarnung schließen. Sie kann sagen: das Spiel ist aus. Was würdest du tun? Dieses Spiel ist Realität: Jeder von uns hat so eine magische Bank: die Zeit. Jeden Morgen bekommen wir 86400 Sekunden geschenkt. Was wir an diesem Tag nicht gelebt haben, ist verloren, für immer verloren. Aber jeden Morgen beginnt sich das Konto neu zu füllen. Was also machst du mit deinen täglichen 86.400 Sekunden?“

Diese kleine und doch so bedeutsame Geschichte von Marc Levy verschenke ich bei meinen Beratungen und Gesprächen immer wieder gerne an Patienten in der Klinik, insbesondere an Menschen die an Krebs erkrankt sind. Denn vor allem nach der Diagnose Krebs wird einem schmerzlich bewusst, wie wertvoll jeder Tag, jede Stunde, jede Minute ist, die man lebt. – Genau in diesem Moment steht einem die Begrenztheit des Lebens, die Endlichkeit vor Augen – so klar wie vielleicht noch nie zuvor.

Faktor Zeit

Fast alles können wir kaufen – nur Zeit nicht! In Krisensituationen wird sie schlagartig zu einem unserer kostbarsten Güter! Im Alltagsgeschehen vor der Erkrankung war uns dies wahrscheinlich gar nicht so bewusst. Möglicherweise haben wir Dinge und Vorhaben aufgeschoben weil wir keine Zeit dafür gefunden haben, weil anderes wichtiger war, drängte, oder weil man dachte, man könne es auf ein anderes Mal verschieben. Nach der Diagnosestellung haben wir plötzlich das Gefühl, dass uns Zeit wie Sand durch die Finger rinnt oder dass wir der Zeit hinterher hasten. Der Faktor Zeit bekommt ganz andere Dimensionen. Vor allem bei beängstigenden Fragen. Wie viel Zeit bleibt mir? Was muss ich, was will ich regeln? Was habe ich noch vor? Und was wollte ich schon immer mal tun? Und was genau mache ich aus dem heutigen Tag?

Zeit ist etwas Seltsames, denn es fällt uns bedeutend leichter uns in die Zeit hineinzudenken, die wir für Zukünftiges verplant haben, als unser Leben in der realen Jetzt-Zeit zu verbringen. Wie oft leben wir nach der Uhr und schaffen uns ganze Tages-, Wochen-, Monats-, oder Jahrespläne, richten uns danach aus. Mit dem ständigen Blick auf Uhr und Kalender sind wir zeitlich und gedanklich meist woanders – nur nicht bei uns selbst. Das Skurrile dabei aber ist, dass wir gar nicht wissen, ob es das Nachher, das Später, Morgen oder die nächsten Monate überhaupt für uns geben wird. Alles was wirklich real ist, ist der Augenblick in dem wir leben.

Verpflichtungen, Planungen

Im „Hier und Jetzt“ zu leben, ist aber oft leichter gesagt als getan…… häufig stehen einem Verpflichtungen und Planungen im Weg, die sogar innere Konflikte bereiten können.

„Eigentlich möchte ich so schnell wie möglich einmal in meinem Leben New York besuchen. Das wollte ich schon immer mal machen. Mein Arzt sagt auch, dass ich die Reise antreten kann. Ich muss aber meine pflegebedürftige Mutter versorgen. Was ist, wenn ihr während meiner Abwesenheit etwas passiert? Ich habe meiner Mutter versprochen mich um sie zu kümmern.  Aber ich weiß auch nicht, ob mein Gesundheitszustand so eine Unternehmung künftig noch zulässt…..“ erzählt Herbert B., 52 Jahre, Darm-CA. Nachdem er eine externe Versorgung für seine Mutter organisiert hatte, fand Herbert B. den Mut sich seinen Herzenswunsch zu gönnen.

„Wenn nicht jetzt, wann dann?

Vor allem bei einer onkologischen Erkrankung kommt dieser Frage eine besondere Bedeutung zu. Im Hier und jetzt zu leben heißt auch, sein Leben aktiv in die Hand zu nehmen, etwas für sich tun zu können. Heute zu leben heißt aber nicht gleichzeitig auch das Morgen zu vergessen – sondern es geht um Bewusstheit und um Bewusstsein – d.h. im hier und jetzt zu sein, wo immer man ist und was immer man grad macht. Konkret bedeutet es, das Leben in sich hineinzusaugen, es mit allen Sinnen wahrzunehmen, zu genießen. Viele kleine Momente, Begebenheiten werden, wenn sie bewusst wahrgenommen werden zu persönlichen Kostbarkeiten.

 Achtsamkeit und Akzeptanz

Unter bewusster Wahrnehmung wird vielfach auch Offenheit, Aufgeschlossenheit und natürlich auch der Begriff Achtsamkeit verstanden. Es handelt sich um ein körperorientiertes Verfahren im Sinne eines Gewahrwerdens und Gewahrbleibens. Einer der wichtigsten Vertreter dieses Verfahrens ist Jon Kobat-Zinn mit seiner Anleitung zur Stressreduktion: „Im Alltag Ruhe finden“. Dabei ist Achtsamkeit eine besondere Art und Weise, bewusst durchs Leben zu gehen. Es verbindet sich das Außenbewusstsein mit dem Innenbewusstsein, das Ich mit dem Selbst und der Verstand mit dem Gefühl. Diese ganzheitliche achtsame Selbstführung ist darauf ausgerichtet auf sich selbst zu achten, heilsamer mit sich umzugehen und nicht zuletzt auch darauf Umstände und Dinge akzeptieren zu können.

sich einlassen und loslassen

In der jahrhundertealten fernöstlichen Tradition und Philosophie des ZEN hat die Achtsamkeit einen besonderen Stellenwert. Hier führt Achtsamkeit auch dazu etwas anzunehmen und auch loslassen zu können.

„Den Weg zu gehen bedeutet, sich auf die Wirklichkeit des Hier und Jetzt einzulassen. Denn da die Wirklichkeit die allumfassende Ganzheit ist, umfasst sie alle drei Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – in einem einzigen Augenblick. Das ist das ‚Jetzt‘.“ – Lehrsatz aus dem ZEN

Gelassenheit

Auch bei einer Krebs-Erkrankung, ist ein Weg zu beschreiten. Wie auch immer bei diesem Weg die Zukunft aussehen mag, wichtig sind vor allem die Augenblicke in denen man diesen Weg geht. Dazu gehört, auch wenn es oft schwer fallen mag Gelassenheit. Nur wer entspannt und gelassen ist, kann im Hier und Jetzt leben.

Das Gelassenheitsgebet ist ein vermutlich von dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr verfasstes Gebet, das zur Gelassenheit auffordert. Es beschreibt kurz und trefflich das ideale Verhältnis von langfristiger Bewältigung und kurzfristiger Erleichterung. Die populärste Version lautet:

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

gute Vorsätze helfen

In jeder Kultur und Religion finden sich Anregungen zur Gelassenheit und zu einer bewussten und entspannten Lebensführung. Sie können einen lotsen und Orientierung bieten.

„Nur für heute werde ich mich bemühen, den Tag zu erleben, ohne das Problem meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.“

„Nur für heute werde ich mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass sich die Umstände an mich und meine Wünsche anpassen.“

„Nur für heute, werde ich fest glauben – selbst, wenn die Umstände das Gegenteil zeigen sollten – dass die gütige Vorsehung Gottes sich um mich kümmert, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt.“

„Nur für heute werde ich keine Angst haben. Ganz besonders werde ich keine Angst haben, mich an allem zu freuen, was schön ist, und an die Güte zu glauben.“ 
Johannes XXIII

Affirmationen für ein Leben im Hier und Jetzt:

Ich  lebe achtsam im Hier und Jetzt.

Ich nutze die Zeit, die ich habe, um mein Leben zu leben. Die Zeit die mir zur Verfügung steht liegt im Jetzt.

Ich bin aufmerksam. Ich bin mir meines Lebens bewusst – ich nehme alles mit allen Sinnen wahr. Ich spüre in mich hinein.

Ich akzeptiere den Augenblick so wie er jetzt ist.

Jetzt ist die Zeit zu leben. Jetzt werde ich für mich aktiv. Das Jetzt zählt.

dem Tag mehr Leben geben

Onkologische Erkrankungen sind kräfte- und nervenzehrende Prozesse. Ein wichtiges Ziel dabei ist, sich möglichst lange seine Lebensqualität und Lebensfreude zu erhalten. Sich etwas zu gönnen, zu genießen, etwas Neues auszuprobieren, entdecken zu wollen – am besten heute noch und jeden Tag aufs Neue.

„Auch wenn es zwischendurch für mich sehr schwer war, hat mit der Krankheit eigentlich die beste Zeit meines Lebens begonnen. Ich habe viele wertvolle Erfahrungen gemacht, mein Leben neu geplant. Ich mache das was mir wichtig ist, woran ich Freude habe. Und ich habe erkannt wer meine wirklichen Freunde sind.“ erklärt Philipp 27 Jahre, mit akuter lymphatischer Leukämie nach einer erfolgreichen Stammzellentransplantation.

„Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“ Cicely Saunders, engl. Begründerin der modernen Hospizbewegung.

In diesem Sinne gilt es zu leben – und zwar im HIER und JETZT!


Literatur zum Thema

Dokuho Meindl, J. Zen, das Glück im Jetzt. München 2011

Kobat-Zinn, J. Im Alltag Ruhe finden. Meditationen für ein gelassenes Leben. München 2010.

ders. Die heilende Zeit der Achtsamkeit. Freiburg 2004

Tolle, E. Jetzt! Die Kraft der Gegenwart. Bielefeld 2010.

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