Therapie & Forsch.   
 Palliativmedizin
Interview mit Prof. Voltz

Krebsmagazin: Herr Professor Voltz, was versteht man unter dem Begriff der Palliativmedizin?

Prof. Voltz: Der Betriff "palliativ" kommt vom Lateinischen "Pallium" - der Mantel. Hierunter versteht man das Ummänteln, d. h. die Fürsorge für den Patienten. Das Hauptziel der ärztlichen und pflegerischen Bemühungen ist die Symptom- und Beschwerdenlinderung. Die Palliativmedizin steht im Gegensatz zur kurativ orientierten Medizin, bei der das Ziel die Heilung einer Erkrankung ist. Darüber hinaus muss zwischen einer palliativen Therapiemaßnahme und der Palliativmedizin im Ganzen unterschieden werden. Eine palliative Therapiemaßnahme ist beispielsweise auch die Gabe von Insulin bei einer Zuckererkrankung. Die Zuckererkrankung kann man nicht heilen, also nicht kurativ behandeln, sondern man wendet eine palliative Maßnahme an, da man das, was fehlt, ersetzt. So wird nicht die eigentliche Erkrankung geheilt, sondern nur die Symptome behandelt. Palliativmedizin im Gegensatz dazu beginnt laut der WHO, wenn eine Grunderkrankung besteht, die nicht mehr geheilt werden kann und in absehbarer Zeit progedient, d. h. fortschreitend zum Tode führt. Die Zielrichtung unserer Bemühungen ist nicht mehr die Heilung, sondern die maximale Symptomkontrolle als Basis der Verbesserung der Lebensqualität in der verbleibenden Lebenszeit. Alle Therapieentscheidungen richten sich nach der Frage, ob sie der Verbesserung der Lebensqualität dienen und nur sekundär, wie lange man damit eventuell eine Verlängerung des Lebens erreichen kann.

Krebsmagazin: Warum ist die Palliativmedizin bisher so wenig in der Medizin verankert?

Prof. Voltz: Die spezialisierte Palliativmedizin ist tatsächlich ein relativ junges medizinisches Gebiet. Sie entstand aus der Erkenntnis heraus, dass bestehende Systeme den Bedürfnissen Sterbender und ihrer Angehörigen nicht adäquat begegneten. Wenn man jedoch die Medizin in 10-Jahresräumen betrachtet, so hat sich doch in den letzten Jahren sehr viel auf diesem Gebiet getan. . Als 1967 Cicely Saunders in London das St. Christopher’s Hospice, die erste moderne Palliativstation weltweit eröffnete, hatte sie insgesamt 15 Jahre von der Idee bis zur Verwirklichung gebraucht, um dieses Hospiz zu realisieren – eine lange Zeit. In den letzten 20 Jahren – seit Gründung der ersten Palliativstation Deutschlands 1983 hier in Köln - hat sich auf dem Gebiet der Palliativmedizin auch in Deutschland viel getan. An vielen Orten sind Palliativstationen, Hospizgruppen sowie stationäre Hospize entstanden. Es gibt auch bereits drei Lehrstühle für Palliativmedizin in Bonn, Aachen und Köln. Das Ziel des Stiftungslehrstuhls der Deutschen Krebshilfe hier in Köln ist es, dieses neue, junge Fachgebiet nun an den Universitäten zu verankern und dabei nicht nur die Krankenversorgung, sondern auch die Medizinerausbildung und die Forschung zu fördern. Der vierte Lehrstuhl wird gerade in München besetzt, der fünfte ist in Göttingen ausgeschrieben. Somit ist in kürzerer Zeit doch eine deutliche Verbesserung der Situation in Deutschland zu beobachten.

Krebsmagazin: Sie haben die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin mitgegründet. Wann war das?

Prof. Voltz: Das war 1994. Damals lud Professor Pichlmaier hier nach Köln in den Hörsaal des Dr. Mildred Scheel-Hauses eine Runde von ca. 15 an Palliativmedizin interessierten Medizinern aus ganz Deutschland ein.

Krebsmagazin: Was hat Sie damals dazu veranlasst, die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedzin mitzugründen?

Prof. Voltz: Meine erste Famulatur führte mich bereits 1985 in ein schottisches Hospiz, und danach war ich von dieser Arbeit so fasziniert, dass ich mich, nachdem ich nach Deutsch land zurückgekehrt war, an Köln wendete. Als Medizinstudent arbeitete ich dann in München ehrenamtlich im Christophorus Hospiz –Verein mit, der 1986 gegründet wurde und sich gerade im Aufbau befand. Über die Jahre hat sich dann daraus meine heutige Arbeit entwickelt.

Krebsmagazin: Herr Professor Voltz, Sie waren am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in den USA tätig. Was können wir von den Amerikanern lernen?

Prof. Voltz: Das Memorial Sloan Kettering Cancer Center ist eines der wesentlichen Krebszentren weltweit. Es ist sehr finanzstark und kann deshalb sehr viel Geld in die Forschung investieren. Der damalige Leiter der Neurologie, Prof. Posner, war seinerzeit einer der ersten in den USA, der die Palliativmedizin in die Neurologie integrierte und somit wichtige Impulse für die gesamte Palliativmedizin gab. Die neurologisch orientierte Palliativmedizin in den USA ist daher auch gegenüber Großbritannien, das ja als führend in der Palliativmedzin auf der Welt gilt, weiter entwickelt. Außerdem beschäftigte Prof. Posner sich mit paraneoplastischen Syndromen, das heißt diejenigen neurologischen Komplikationen, die durch einen nicht im Nervensystem liegenden Tumor ausgelöst werden, was sich zu einem meiner Forschungsschwerpunkte entwickelt hat.

Krebsmagazin: Sind aus dem Bereich der Neurologie neue Erkenntnisse für die Palliativmedizin zu erwarten?

Prof. Voltz: Ja. In den letzten 23 Jahren hat sich die Palliativmedizin in Deutschland hauptsächlich in der Versorgung von Tumorpatienten und im Bereich der Tumorschmerztherapie entwickelt. Daher rührt auch die Besetzung der ersten beiden Lehrstühle beispielsweise durch Anästhesisten. Die Erkenntnisse in der Schmerzbehandlung sind inzwischen so tiefgreifend, dass man im Prinzip weiß, wie man Schmerzen gut behandeln kann. Hierzu müssen allerdings diese Erkenntnisse noch weiter verbreitet werden, damit wirklich jeder Schmerzpatient die bestmöglichste Schmerztherapie erhält. Darüber hinaus gibt es aber neben den Schmerzen zahlreiche weitere Symptome, wie Atemnot, Husten, Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung sowie neurologische und psychiatrische Symptome, deren Behandlung nunmehr ähnlich wie bei der Schmerztherapie weiter verbessert werden muss. Ein weiterer Schwerpunkt in der Palliativmedizin, die sich zurzeit zu über 95% den Tumorpatienten widmet, sind andere Erkrankungen wie internistische Erkrankungen, neurologische Erkrankungen wie Demenzen oder Schlaganfälle und Multiple Sklerose. In Deutschland muss die palliativmedizinische Versorgung für diese nicht-onkologischen Erkrankungen sicherlich noch weiter verbessert werden.

Krebsmagazin: Wo liegen in der ambulanten und auch klinischen Praxis die meisten Schwierigkeiten in der Behandlung Schwerstkranker?

Prof. Voltz: Viele Erkenntnisse der bestmöglichen Behandlung von Palliativpatienten sind einfach noch nicht überall bekannt, und die Versorgungsstrukturen sind oft noch sehr lückenhaft und unvollständig. Ein Hausarzt behandelt durchschnittlich etwa 3 Palliativpatienten im Jahr. Gegenüber anderen Krankheitsbildern, die ein Hausarzt behandelt, ist dies äußerst wenig. Damit ist es selbstverständlich, dass sich ein Hausarzt nicht entsprechend in allen Aspekten der Palliativmedizin ständig fortbilden kann. Daher sollte, um die Versorgung von schwerkranken und sterbenden Menschen zu Hause zu ermöglichen, der betreuende Hausarzt mit palliativmedizinischen Einrichtungen vernetzt sein, wie z. B. einem ambulant arbeitenden Palliativpflegedienst. Da dies in der Regel nicht der Fall ist, werden viele Palliativpatienten zur Versorgung häufig in eine Klinik eingewiesen, ohne dass dies medizinisch nötig wäre. Das Ziel sollte aber sein, die Palliativpatienten möglichst lange zuhause zu betreuen und zu versorgen.

Krebsmagazin : Woran merkt ein Patient, dass er bald sterben wird?

Prof. Voltz: Unsere Erfahrung ist, dass Menschen mit einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung oft viel besser das Fortschreiten der Erkrankung beurteilen können als es Ärzte können. Darauf müssen wir als Ärzte sehr achten. In Bezug auf das baldige Eintreten des Todes gibt es im Bereich der Tumorerkrankungen auch von außen erkennbare klare Kriterien, um zu sagen, ob ein Mensch innerhalb der nächsten 5 Tage versterben wird. Eine andere Frage oft lange vor der allerletzten Lebensphase ist, ob ein Tumorleiden noch heilbar oder nicht mehr heilbar ist. Wächst ein Tumor trotz einer zweiten oder dritten Chemotherapie weiter, treten schwere Nebenwirkungen auf und ist der Körper extrem geschwächt, so kann man in der Regel davon ausgehen, dass eine Heilung nicht mehr möglich ist. Zu diesem Zeitpunkt muss gemeinsam entschieden werden , ob das Therapieziel von einer auf Heilung oder deutlichen Lebensverlängerung ausgerichteten Therapie in eine auf Linderung der Schmerzen und Beschwerden ausgerichteten Therapie geändert wird. Hierin müssen auch die Angehörigen miteinbezogen werden, damit Konsens über die Therapiezieländerung herrscht. Dabei handelt es sich immer um einen Prozess, der Zeit benötigt, was einen ganz wichtigen Aspekt darstellt.

Krebsmagazin: Was würden Sie einem Patienten raten, der nicht mehr auf Heilung seines Tumorleidens hoffen kann?

Prof. Voltz: Insbesondere keine Angst haben. Auch wenn der Tumor nicht mehr geheilt werden kann, kann die verbleibende Zeit sehr wertvoll und schön werden, wenn nötig mit Hilfe der Palliativmedizin oder Hospizgruppen. Trotz der fortgeschrittenen Erkrankung kann der Betroffene selbstverständlich alle Therapieentscheidungen selbst mitbestimmen. Eine konkrete Zeitspanne für die letzte Lebensphase, wie oft vom Arzt erfragt, kann nicht genannt werden, da sie immer falsch ist. Es ist nicht sinnvoll, einen Patienten trotz ausgeprägter Appetitlosigkeit zum Essen zu zwingen. Dies würde dem Betroffenen unter großen Druck setzen. Es ist immer wichtig, zu sehen, was in dieser Lebensphase das Ziel ist. Das heißt konkret, Zwänge vom Patienten zu nehmen und nicht schematisch eine Therapie durchführen.

Krebsmagazin: Wenn Angehörige von Patienten in der letzten Lebensphase, die von einem Hausarzt betreut werden, weitere Hilfe und Unterstützung brauchen, wo können sie dann Hilfe finden?

Prof. Voltz: Es gibt in Deutschland vermehrt Institutionen wie Hospize, Hospizgruppen und Palliativstationen. Es gibt auch Regionen in Deutschland, in denen Palliativ- und Hospizversorgung kaum vorhanden ist. In den Regionen, in denen solche Anlaufstellen existieren, können diese beraten, welche niedergelassenen Ärzte in der Begleitung von Patienten in der letzten Lebensphase besonders erfahren sind. Man sollte sich dann auch als Betroffener nicht scheuen, diese zusätzliche Hilfe neben dem gewohnten Hausarzt anzunehmen. Ziel unserer Arbeit ist es auch, eine regionale telefonische Beratungs- und Koordinierungsstelle einzurichten, bei der man zu den unterschiedlichsten Fragen Rat und Hilfe erfahren kann. Das Team, das hier weiterhilft, muss ganz vielseitig sein, um den vielschichtigen Problemen der Betroffenen und ihren Angehörigen gerecht zu werden. Ganz wichtig ist bei allen Bemühungen, dem Sterben wieder etwas Natürliches zu geben.

Krebsmagazin: Sollte man aus Ihrer Sicht eine Patientenverfügung machen?

Prof. Voltz: Eine Patientenverfügung ist meiner Meinung nach als Anlass, sich mit dem Thema Sterben und Krankheit auseinanderzusetzen, immer von Vorteil. Inwieweit das, was man als Gesunder schreibt und festlegt, in der Situation, in der man als Kranker womöglich bettlägerig ist, wirklich im Ernstfall anwendbar ist, wage ich aus der Erfahrung heraus zu bezweifeln. Sollte jemand jedoch vollen, klaren Bewusstseins über seiner Erkrankung, die zum Tode führt, festlegt haben, was geschehen soll, ab dem Zeitpunkt, ab dem er sich nicht mehr äußern kann, so sollte die Patientenverfügung verbindlich für die behandelnden Ärzte sein, wenn die Situation, die er beschrieben hatte, tatsächlich eingetreten ist. Der Arzt sollte sich an die Verfügung halten, denn sonst könnte eine Körperverletzung vorliegen. Ein weiterer Aspekt ist die Frage, was hinter einem geäußerten Wunsch liegt. Immerhin geben laut Studien bis zu 30% der Patienten an, dass – trotz klar geäußerten Wunsches im Rahmen einer Patientenverfügung - letztendlich doch der Arzt die letzte Entscheidung haben sollte.

Krebsmagazin: Welchen Stellenwert hat die Seelsorge in der Palliativmedizin?

Prof. Voltz: Die Seelsorge hat nach wie vor einen sehr wichtigen Stellenwert. Allerdings hängt die Bedeutung der Seelsorge, unabhängig davon, welcher Religion oder Konfession ein Sterbender angehört, von jedem Einzelnen ab und variiert sehr. Aber alle Betroffenen und Angehörigen fragen in dieser Situation nach dem Sinn, nach dem Warum, und brauchen für diese Fragen ein offenes Ohr bei allen im behandelnden Team.

Krebsmagazin: Herr Prof. Voltz, wir bedanken uns für dieses Interview.