| Archiv |     Ausgabe 03/2002

Therapie & Forsch.   
 

Dr. med. Anne Roth, Klinik für Innere Medizin, Universitätsklinikum Bonn
Das Multiple Myelom (Plasmozytom)


Unter einem Multiplen Myelom, im deutschen Sprachgebrauch auch Plasmozytom genannt, versteht man eine bösartige Vermehrung einer bestimmten Art von weißen Blutkörperchen. Dabei handelt es sich um sog. B-Lymphozyten. Im Knochenmark reifen die B-Lymphozyten zu Plasmazellen heran. Aufgabe der Plasmazellen ist die Herstellung von Antikörpern zur Bekämpfung von eindringenden Krankheitserregern (Antigene). Gesunde Plasmazellen sind in der Lage, eine unvorstellbare Vielfalt von Antikörpern zu produzieren, so dass das menschliche Abwehrsystem in der Lage ist, gezielt auf Krankheitserreger zu reagieren.
Beim Multiplen Myelom liegt eine bösartige Entartung der Plasmazellen vor. Diese Plasmazellen vermehren sich exzessiv im Knochenmark.

Die krankhaft veränderten Plasmazellen produzieren nur Antikörper einer Sorte, die alle die gleiche Struktur aufweisen. Entscheidend hierbei ist, dass diese atypischen Antikörper funktionsuntüchtig sind. Sie können ihrer Aufgabe der Infektionsabwehr nicht nachkommen. Folge ist eine stark reduzierte körperliche Abwehr. Die entarteten Plasmazellen reichern sich typischerweise im blutbildenden roten Knochenmark vor allem von Wirbelkörper, Rippen, Schädel, Becken, Oberarm- und Oberschenkelknochen an. Sie verdrängen dort die gesunden heranwachsenden Blutzellen. Zu Beginn einer Plasmozytomerkrankung bestehen bei den meisten Patienten keine Symptome. Im weiteren Verlauf werden oft uncharakteristische Symptome geklagt wie Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schwäche und Appetitlosigkeit. Die nachfolgend genannten Symptome treten meist erst im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung auf:

1. Knochenschmerzen: die Plasmazellen bilden selbst Stoffe, die sog. Osteoklasten im Knochenmark aktivieren. Osteoklasten sind Zellen, die Knochen abbauen. Es kommt zu einer Verweichung und Ausdünnung des Knochens. Folge können Schmerzen und Knochenbrüche sein. Das Knochengewebe ist sehr kalziumreich. Wenn sich der Knochen auflöst, wird Kalzium freigesetzt, was oft zu hohen Kalziummengen im Blut führt. Ein kritischer Anstieg von Kalzium im Blut kann unter anderem Nierenschäden bis hin zum Nierenversagen verursachen.

2. Blutarmut, Abwehrschwäche, erhöhte Blutungsneigung: je größer die Masse an entarteten Plasmazellen im Knochenmark, desto stärker werden die Zellen der normalen Blutbildung dort verdrängt. Die Reifung der roten Blutkörperchen wird am frühesten beeinträchtigt. Symptome der sich daraus ergebenden Anämie (Blutarmut) sind BIässe, Schwäche, Müdigkeit und Luftnot. Der Mangel an weißen Blutkörperchen verstärkt die durch den Antikörpermangel ohnehin schon bestehende Abwehrschwäche. Das Defizit an Blutplättchen macht sich in einer erhöhten Blutungsneigung bemerkbar. Typisch ist das Auftreten von Nasenbluten oder von verstärkten Monatsblutungen bei Frauen.

Bei Vorliegen von oben genannten Symptomen und dem Verdacht auf ein Multiples Myelom sind zur Sicherung der Diagnose Untersuchungen von Blut und Urin, Röntgenuntersuchungen sowie eine Probeentnahme aus dem Knochenmark notwendig. Im Blut und im Urin werden die Art und die Menge der atypischen Antikörper bestimmt. Die Blutentnahmen dienen zudem der Überwachung des Blutbildes (der Anzahl an roten und weißen Blutkörperchen und an Blutplättchen). Der Grad der Funktionsbeeinträchtigung des Knochenmarks infolge der Infiltration mit bösartigen Plasmazellen kann so abgeschätzt werden.

Um das Ausmaß der Knochenausdünnung zu beurteilen, werden heute neben konventionellen Röntgenaufnahmen genauere Verfahren wie die Magnetresonanztomographie oder die Computertomographie eingesetzt.

Durch die Gewinnung einer Knochenmarksprobe kann die Ausweitung der Plasmazellen im Knochenmark und die Gestalt der Plasmazellen beurteilt werden. Die Entnahme von Knochenmark erfolgt in örtlicher Betäubung aus dem Beckenknochen. Ziel der modernen Diagnostik beim Plasmozytom ist es, anhand bestimmter Parameter eine Vorhersage über den Krankheitsverlauf zu machen. Schon bei der Feststellung der Erkrankung kann so abgeschätzt werden, ob die Erkrankung schnell oder langsam voranschreiten wird. Dazu werden neben Blutwerten die Gestalt der Zellen im Knochenmarksausstrich beurteilt.

Leider kann das Multiple Myelom mit den derzeitigen Behandlungsansätzen nicht geheilt werden. Heilungsansätze sind lediglich bei einem nur an einer Stelle lokalisierten Befall und bei jüngeren Patienten nach einer Knochenmarktransplantation (fremdes Knochenmark bzw. Stammzellen) möglich. Durch eine intensive Therapie kann das Multiple Myelom in seiner Krankheitsaktivität aber sehr weit zurückgedrängt werden. Ist eine Feststellung der Erkrankung nicht mehr möglich, spricht man von kompletter Rückbildung. Die Erkrankung kann jedoch nach einiger Zeit zurückkehren. Man spricht dann von einem Rezidiv. Ziel der Therapie ist es, das Leben zu verlängern und die Lebensqualität zu verbessern.

Mit einer Chemotherapie muss begonnen werden, wenn spezifische Symptome (z. B. Leistungsminderung, Knochenschmerzen) oder Komplikationen (z. B. Knochenbrüche, Nierenversagen) auftreten. In der Behandlung des Multiplen Myeloms stellte die Einführung der Kombination der beiden Medikamente Melphalan und Prednison (einem Kortisonpräparat) im Jahre 1961 einen Durchbruch dar. Auch heute noch gilt diese Kombination bei älteren Patienten und bei Patienten in schlechtem Gesundheitszustand unverändert als Standardbehandlung. Die Versuche der letzten 25 Jahre, durch die Hinzunahme neuer Substanzen eine weitere Verbesserung des Überlebens zu erzielen, müssen als gescheitert angesehen werden. Die Therapie mit den o. g. Wirkstoffen erfolgt an vier aufeinanderfolgenden Tagen einmal im Monat. Da die Medikamente in Tablettenform eingenommen werden, ist eine ambulante Therapie möglich. Die maximale Behandlungsdauer beträgt ein Jahr. Bei jüngeren Patienten hat sich in den letzten Jahren ein neues Therapiekonzept mit hochdosierter Chemotherapie und Transplantation von Stammzellen etabliert. Diese Verfahren erfordern mehrwöchige stationäre Aufenthalte.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass durch die Gabe von Melphalan und Prednison in sehr hoher Dosierung bei mehr Patienten eine komplette Rückbildung erreicht werden konnte. Allerdings richtete diese hochdosierte Gabe von Melphalan im Knochenmark großen Schaden an. Ein stark ausgeprägter Mangel an weißen Blutkörperchen war bis zu 4 Wochen im Anschluss an die Chemotherapie nachweisbar. Dies war mit einer hohen Infektionsgefahr verbunden.

Um das Risiko einer langanhaltenden Knochenmarksschädigung zu mindern, entwickelten Wissenschaftler zwei Verfahren:

1. Gabe von Wachstumsfaktoren, die die Neubildung weißer Blutkörperchen beschleunigen. Die Zeit der größten Abwehrschwäche kann auf diese Weise deutlich verkürzt werden.

2. Rückübertragung von Knochenmark- oder Blutstammzellen, die vor der Hochdosistherapie gewonnen wurden. Dieses Verfahren bezeichnet man auch als Stammzelltransplantation. Die Übertragung der Stammzellen erfolgt über eine Infusion in eine Armvene. Von dort aus wandern die Stammzellen über die Blutbahn in das durch die Hochdosistherapie leere Knochenmark und siedeln sich dort an. Die Stammzellen sind Ausgangspunkt für die Bildung neuer, gesunder Blutzellen.




Durch die Kombination beider Verfahren konnte die Zeit bis zur vollständigen Erholung der Blutbildung deutlich verkürzt werden. Die Infektionsgefahr wurde hierdurch erheblich gemindert.

Eine Heilung des Multiplen Myeloms ist mittels der sog. allogenen Transplantation erreichbar, bei der Stammzellen von einem Spender, meist eines Verwandten I. Grades, gewonnen werden. Dieses Verfahren stellt auch bei jungen Patienten ein risikoreiches Unterfangen dar. Eine oft tödlich endende Komplikation stellt dabei die "Transplantat gegen-Wirt-Reaktion" dar. Hierbei wird der Organismus des Patienten von den Stammzellen des Spenders als fremd erkannt und bekämpft.

Durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse konnte die Sterblichkeit in Folge der allogenen (Fremdspender) Transplantation deutlich reduziert werden. Dazu tragen verbesserte Strategien in der Behandlung von Infektionen und vorbeugende Maßnahmen gegen eine "Transplantat gegen-Wirt-Reaktion" bei.

Die Strahlentherapie wird ergänzend zur Chemotherapie eingesetzt. Sie kommt vor allem zur Behandlung von Schmerzen, ausgehend vom befallenen Knochen zur Anwendung. Hierdurch kann eine deutliche Abmilderung der Knochenschmerzen erreicht werden. Bereits eingetretene Knochenbrüche können mittels Bestrahlung stabilisiert werden. Die Bestrahlung ist wenig belastend und kann ambulant durchgeführt werden.

In den letzten 20 Jahren wurden zahlreiche Untersuchungen mit Interferon beim Multiplen Myelom durchgeführt. Interferon ist eine körpereigene Substanz mit vielfältigen Wirkungen auf die Zellen des Abwehrsystems. Unter anderem hemmt es die Vermehrung von Plasmazellen. Der Einsatz von Interferon empfiehlt sich bei Patienten, bei denen die Chemotherapie zu einer Stabilisierung des Krankheitsbildes geführt hat. Ziel einer Interferon-Therapie ist also die Erhaltung einer durch Chemotherapie erzielten Rückbildung der Krankheit.

In den letzten Jahren konnte die Lebensqualität von Patienten mit Multiplem Myelom durch begleitende Therapiemaßnahmen deutlich verbessert werden. Hierzu zählen die Verlangsamung der Knochenausdünnung und die Linderung der Knochenschmerzen durch Bisphosphonate.

Durch die Gabe von Erythropoetin, einem Wachstumsfaktor für die roten Blutkörperchen, können die Krankheitszeichen der Anämie, wie Müdigkeit und Abgeschlagenheit abgemildert werden. Die langandauernde Abwehrschwäche kann durch Infusion von Antikörpern bekämpft werden. Die starken Knochenschmerzen erfordern oft eine intensive medikamentöse Therapie. Dabei ist die völlige Schmerzfreiheit der Patienten das Behandlungsziel. Die wirksamsten Medikamente in der Schmerztherapie sind Morphinpräparate. Die Entwicklung einer Abhängigkeit ist bei vorschriftsmäßiger Einnahme nicht zu befürchten.

Insgesamt haben wissenschaftliche Erkenntnisse in den letzten Jahren zu einer deutlichen Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten des Multiplen Myeloms geführt. Dennoch handelt es sich wie bei vielen anderen Tumorerkrankungen um eine chronisch verlaufende, in den meisten Fällen nicht heilbare Erkrankung. Die derzeitigen Bemühungen der Forscher richten sich vor allem auf die genaue Erforschung der Krankheitsentstehung. Dies wird langfristig zu einer weiteren Verbesserung in Diagnostik und Therapie und - so ist zu hoffen - zu neuen Heilungsmöglichkeiten führen.