Schwerpunkt: Krankheitsbewältigung   
 Krankheitsbewältigung ist die Fähigkeit,
mit einer Krankheit zu leben.


"Seit ich zum zweiten Mal erkrankt bin, fühle ich mich völlig aus der Bahn geworfen. Bei meiner Ersterkrankung war ich so voller Zuversicht, dass ich wieder gesund werde und bin nach der OP und der Bestrahlung wieder in mein vorheriges Leben zurückgekehrt. Aber jetzt weiß ich, dass ich mich daran gewöhnen muss, mit der Krankheit zu leben – ich weiß nur noch nicht wie. Meine Familie versucht mich zu trösten, aber das kann ich manchmal gar nicht ertragen." - so eine an Krebs erkrankte Frau.

Die Konfrontation mit der Diagnose Krebs stürzt den jeweiligen Menschen und sein Umfeld in eine Krise, deren Dauer nicht absehbar ist und die durch jede Kontrolluntersuchung, besonders aber durch jedes Wiederauftreten der Krankheit reaktiviert wird. Bisherige Lebenspläne werden in Frage gestellt, die Menschen fühlen sich zwischen Hoffnung und Verzweiflung hinund hergerissen und können diese Ambivalenz nicht einordnen. Die eigenen Empfindungen und Reaktionen erscheinen fremd und unangemessen, depressive Symptome und Ängste treten wiederholt auf und das Umfeld appelliert hilflos aber wohlmeinend an das "Positiv in die Zukunft blicken" und das "Kämpfen gegen die Krankheit".

Aufkeimende persönliche oder familiäre Konflikte werden häufig übergangen aus Furcht, die Auseinandersetzung mit "Problemen" könnte die Krankheit beschleunigen. Es stellt sich die Frage, wie solche Lebenskrisen zu verarbeiten sind und ob es besonders "günstige Strategien" zur Bewältigung der Krankheit gibt.

Grundsätzlich ist festzustellen: Die Bewältigung einer Krankheit ist stets ein individuelles Geschehen und findet immer vor dem Hintergrund einer persönlichen Lebensgeschichte statt, auf der Basis der Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens gemacht hat. Der Mensch kann aber nur das verarbeiten und bewältigen , was er auch bewusst durchlebt.

So verfügt der Mensch über zahlreiche Fähigkeiten, mit belastenden Lebenssituationen umzugehen. Einige, die üblicherweise eher negativ besetzt sind, seien hier genannt:

Die Fähigkeit zur Verdrängung oder Verleugnung von Themen und Problematiken, die der Einzelne derzeit nicht bewältigen kann, hat zunächst eine strukturierende und schützende Funktion: Jeder Mensch hat ein intuitives Gespür für die Grenzen seiner Belastbarkeit und wird sich nur mit dem konfrontieren und auseinandersetzen, was er im Moment ertragen kann.

Die Fähigkeit zur Angst gehört zum Leben, da sie den Menschen drohende Gefahren erkennen und darauf reagieren lässt. Angst und Furcht motivieren zur Achtsamkeit, zum Handeln und zur Veränderung.

Die Fähigkeit zum Aushalten befähigt den Menschen, mit seiner Ohnmacht umzugehen, Phasen von Orientierungslosigkeit, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit erleben und ertragen zu können.

Die Fähigkeit zur Auseinandersetzung ermöglicht dem Individuum eine innere Standortbestimmung, ein Abwägen, welche Probleme wann und wie anzugehen sind und das weitere Handeln zu planen.

Es gehören also mehrere Aspekte zur Krankheits- und Krisenbewältigung, so auch das Verleugnen, das Aushalten, die Auseinandersetzung und das Handeln.

Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst etc. sind "normale" Reaktionen in einer Krise. Das Erleben dieser so genannten "negativen" Gefühle ist also nicht das Gegenteil von Bewältigung, sondern ein wesentlicher Bestandteil derselben. Menschen erleben ihre Krankheit immer in ihrem jeweiligen Lebensumfeld, mit dem sie in Beziehung stehen.

So appelliert das Umfeld häufig an das "Positive Denken" und an das "Kämpfen" als aktive Bewältigungsstrategie - nicht zuletzt deshalb, um die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit zu überbrücken. Es ist für die Patienten oft eine Herausforderung, die Berechtigung der so genannten "negativen" Gedanken und Gefühle sowie der Notwendigkeit , manches einfach aushalten zu müssen, zu verteidigen. Dennoch ist genau diese Auseinandersetzung wichtig, denn auch das Umfeld muss die Bewältigung einer Krankheit erst lernen.

So ist es für nahestehende Menschen schwer zu ertragen, dass es Phasen gibt, in denen die Patienten ihren Tränen freien Lauf lassen - als Ausdruck eines Schmerzes den sie nicht in Worte fassen können. Unter Umständen möchten sie nicht einmal getröstet werden, denn in manchen Situationen gibt es keinen Trost .

Solch einer emotionalen Entladung muss nicht zwangsläufig eine definitiv auslösende Situation vorausgegangen sein. Zuweilen entlädt sich das, was sich als Anspannung über die Zeit der Erkrankung angestaut hat, in Tränen. Auch dieses ist eine natürliche Fähigkeit des Menschen .

Für Patienten und Angehörige gleichermaßen schwer zu verstehen ist, dass die Bewältigung einer Krise erst dann einsetzt, wenn sie bereits abgeschlossen zu sein scheint. So fühlen sich viele Patienten während ihres klinischen Aufenthaltes stark, glauben, alles bewältigt zu haben und sind erschüttert darüber , dass sie nun zu Hause in ein tiefes Loch von Deprimiertheit und Resignation fallen.

Dieses lässt sich damit erklären, dass die emotionale Auseinandersetzung mit einem krisenhaften Ereignis erst dann eintritt, wenn die "akute Gefahr" z.B. die Operation, die Therapie überstanden ist . Erst dann hat der Mensch genügend seelische Kraft zur Verfügung, sich damit zu beschäftigen, was ihm widerfahren ist und kann damit umgehen.

Wann ein Mensch sich mit seiner Erkrankung auseinandersetzt und in welchem Umfang er dieses tut, hängt von seiner Persönlichkeit und von seinem Lebenshintergrund ab; ebenso welche Strategien zur Krankheitsbewältigung er als sinnvoll erachtet.

Doch Krankheitsbewältigung ist keine einmalige Leistung sondern ein Prozess, der im Leben des Menschen stattfindet, in seinem familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld, neben all den Problemen, die das Leben mit sich bringt.

Menschen werden in ihrem Leben mit zahlreichen Problemen konfrontiert und die Auseinandersetzung mit diesen Aufgaben trägt zur Entwicklung der individuellen Persönlichkeit bei.

Die Krankheitsbewältigung ist eine jener Aufgaben, die den Menschen immer wieder neu herausfordert, je nach Veränderungen des Krankheitsprozesses oder der Lebensumstände.

Tritt die Erkrankung erneut auf, muss auch diese Diagnose und deren Auswirkungen auf das Leben wieder neu verarbeitet und bewältigt werden.

Letztlich geht es sowohl für den erkrankten Menschen selbst als auch für das Umfeld um eine Bewusstseinsänderung, nämlich um die Erkenntnis, dass Gesundheit nicht ausschließlich die Abwesenheit von Krankheit bedeutet, sondern ebenso die Fähigkeit, mit einer Krankheit leben zu können.

Krankheitsbewältigung ist also auch die Fähigkeit, diese Krankheit in das Leben zu integrieren, ohne sie zum permanenten Lebensmittelpunkt zu machen.