| Archiv |     Ausgabe Juli 2002

Schwerpunkt: Ursachen und Entstehung von Krebs   
 Dr. Oliver Micke
Ursachen und Entstehung bösartiger Tumorerkrankungen

Im Gegensatz zu der in der Öffentlichkeit breitgeführten Diskussion über die krebserzeugende Wirkung
bestimmter Einflüsse aus unserer Umwelt, seien es Ernährungsfaktoren, "Handy-Strahlung", Kernkraftwerke oder Erdstrahlen, so sind die wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse zu den Ursachen bösartiger Tumorerkrankungen gering. Große Fortschritte auf dem Gebiet der molekularen Zellbiologie haben die genetischen Veränderungen, die der Krebsentstehung zugrunde liegen, weitgehend erhellen können, trotzdem kann die Frage, warum ein bestimmtes Individuum an einem bösartigen Tumor erkrankt und ein anderes nicht, nur im Ausnahmefall ausreichend beantwortet werden. Was die moderne Molekularbiologie auf jeden Fall zeigen konnte ist, dass es eine einheitliche Krebsursache nicht gibt und dass die bösartige Entartung ein graduelles Entgleiten körpereigener Zellen aus dem komplexen Regelmechanismus ihres normalen Wachstumsprozesses darstellt. Dies ist ein mehrschrittiger Prozess, bestehend aus einer Initiationsphase mit der Unwandlung der normalen Zelle in eine bösartige Zelle (Abbildung 1), und der Promotionsphase mit der Entstehung des manifesten Tumors (Abbildung 2) aus der bösartig veränderten Zelle. Dieser Prozess kann durch verschiedene Ursachen und Faktoren stimuliert werden. Diese heißen entweder karzinogen, wenn sie die bösartige Transformation auslösen, und kokarzinogen, wenn sie nicht direkt karzinogen sind, sondern die Tumorentstehung nur fördern. Die genetischen Veränderungen, die schließlich zur Entstehung eines bösartigen Tumors führen, betreffen zwei Gentypen: Die das Wachstum aktivierenden Onkogene (Krebsgene), und ihre Antagonisten (Gegenspieler) den Tumorsuppressorgenen. Die Tumorsuppressorgene hemmen im Gegensatz dazu das Wachstum. Ihr Wegfall führt zu einer Enthemmung von Vorgängen, die zur bösartigen Entartung führen, und bedeutet einen weiteren Mechanismus der bösartigen Umformung der Zelle. Dies spielt vor allem eine wichtige Rolle bei der familiären Veranlagung für bestimmte Tumorarten.


Welche speziellen Ursachen lassen sich für die Auslösung der oben beschriebenen Kaskade verantwortlich machen?


neoplastische (maligne) Zelle
Abbildung 1: Rasterelektronische Aufnahme eine einzelnen neoplastischen (malignen) Zelle mit kleinen Ausstülpungen (Microvilli)
A. Von innen kommende Faktoren

1. Vererbung:
Bis auf ganz wenige Ausnahmen wird Krebs nicht direkt vererbt, vielmehr wird die Empfänglichkeit auf bestimmte Karzinogene und Kokarzinogene zu reagieren und Bereitschaft zur Entwicklung bestimmter Tumoren weitergegeben. So gibt es sog. "Krebsfamilien", in denen bestimmte Tumorerkrankungen besonders häufig sind, z.B. der Brustkrebs der Frau, der Dickdarmkrebs oder Netzhauttumoren im Kindes- und Jugendalter. Das Risiko an Brustkrebs zu erkranken ist z.B. bei der Erkrankung der Mutter oder der Schwester verdreifacht, bei Erkrankung der Mutter und der Schwester verneunfacht. Daneben gibt es noch einige Erbkrankheiten, bei denen das Risiko an bestimmten Tumoren zu erkranken deutlich erhöht ist, wie z.B. die Neurofibromatose von Recklinghausen (Neurosarkome), die Xeroderma pigmentosum (Hautkrebs) und die adenomatöse Polyposis Coli (Kolonkarzinom).

B. Von außen wirkende Faktoren

Die wichtigsten Karzinogene und Kokarzinogene, die den Menschen beeinflussen, sind exogener Natur, d.h. sie liegen in unserer Umwelt vor oder resultieren aus unseren Ernährungsgewohnheiten oder unser Lebensweise oder sind die Folge bestimmter Virusinfektionen.

1. Ernährungsfaktoren:
Der Einfluss von Ernährungsfaktoren auf die Krebsentstehung ist epidemiologisch gut belegt. Angeschuldigt werden ein hoher Anteil gesättigter oder einfach ungesättigter Fettsäuren in der Nahrung, der hohe Fleischkonsum in den Industrieländern, das weitgehende Fehlen von Rohfaserprodukten und pflanzlichen Ballaststoffen sowie bestimmte Formen der Nahrungszubereitung wie Pökeln und Räuchern. Dies gilt vor allem für Tumoren des Magendarmtraktes. So sind z.B. das Magenkarzinom in Japan (stärkere Nitrosaminbildung und gepökelte Produkte) und das Karzinom des Dick- oder Enddarms in den westlichen Industrieländern (fettreiche, ballaststoffarme Ernährung) typische durch Ernährung (mit)verusachte Krebsformen.



2. Chemische Karzinogene:
Mehr als 1000 chemische Verbindungen sind heute bekannt, die nach tierexperimentellen und epidemiologischen Befunden beim Menschen krebserzeugend wirken können. Exemplarisch sollen hier nur die wichtigsten genannt werden: Das Rauchen ist mit Sicherheit die bekannteste und weitverbreitetste. Krebserzeugend wirken insbesondere die polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAH), das Kadmium und verschiedene Nitrosamine. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs kann als gesichert gelten. Das Lungenkrebsrisiko steigt direkt proportional mit der Anzahl der gerauchten Zigaretten. Darüber hinaus findet sich auch ein gegenüber dem Nichtraucher deutlich erhöhtes Risiko für Entwicklung von Kopf-Hals-Tumoren, Speiseröhrenkarzinomen, Harnblasenkarzinomen und Nierenzellkarzinomen. In Kombination mit anderen Karzinogenen wie Asbest oder Alkohol führt Tabakrauch zu einer überadditiven Risikosteigerung. Asbest kann zu einem Pleuramesotheliom und zum Lungenkrebs führen. Gefährlich ist allerdings nur die Inhalation des Asbeststaubes, wie sie im Prinzip nur bei Asbest verarbeitenden Berufen vorkommt.
Aflatoxine, die durch Schimmelpilze gebildet werden, können Magenkrebs und primäre Leberzellkarzinome auslösen. Diese Schimmelpilze können als Verunreinigung in pflanzlichen Produkten, wie Getreide, Erdnüssen, Sojabohnen oder Reis vorkommen. Es handelt sich allerdings vorwiegend um ein Problem der Drittweltländer (Afrika, Südostasien). Aromatische Amine, die in der Farbstoffindustrie, aber auch in Tabakrauch und Teer vorkommen, können Blasenkrebs verursachen.

3. Hormone
Hormone an sich sind nicht als krebserzeugend einzustufen, sie können aber eine wachstumsfördernde Wirkung auf bestimmte Tumorarten entfalten. Dies gilt vor allem für das Östrogen beim Endometrium- und Mammakarzinom, sowie das Testosteron beim Prostatakarzinom.

4. Strahleneinwirkung
Die Einwirkung ionisierender Strahlen auf menschliche Körper ist die häufigste physikalische karzinogene Ursache. Die Erkenntnisse über eine Krebsentstehung über eine äußere Strahleneinwirkung oder durch die Aufnahme von strahlenden Teilchen stammen vor allem von den Atombombenopfern von Hiroshima und Nagasaki, weiteren Atombombentests, Uranbergleuten und aus der Frühzeit der Radiodiagnostik und Strahlentherapie, wo sehr viel sorgloser, was den Strahlenschutz angeht, mit dem Einsatz von ionisierenden Strahlen umgegangen wurde. Einen typischen Strahlenkrebs gibt es nicht, histologisch lassen sich strahlenbedingte Karzinome nicht von ihren spontan entstehenden Gegenstücken unterscheiden. Ihnen gemeinsam ist eine lange Latenzzeit (Zeit bis zum Ausbruch der Krebserkrankung), in der Regel 5 bis 20 Jahre. An der Spitze stehen vorwiegend das Knochenmark betreffende Leukämien, Brustkrebs, Schilddrüsenkarzinome und Bronchialkarzinome (insbesondere nach Radon-Inhalation). Nach hochdosierter lokaler Bestrahlung, wie sie besonders unter Strahlentherapiebedingungen vorkommt, entstehen vor allem Weichteil- und Knochensarkome. Auch kleinste Strahlendosen können theoretisch Krebs auslösen, dies beruht allerdings auf Schätzungen und Berechnungen auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Statistisch lassen sich diese Tumoren jedoch nicht erfassen. So sei vor einer übertriebenen Strahlenangst gewarnt. Zumal bei einer medizinisch begründeten Indikation der zum Einsatz kommenden Strahlen in diagnostischer oder therapeutischer Absicht, der mögliche Nutzten die
zu erwartenden Risiken um ein Vielfaches übersteigt.

5. Infektionen
Bestimmte Viren können als sog. Onko-Viren ihre Erbinformation in ein menschliche Zelle einschleusen und dadurch eine Tumorentstehung einleiten. Dies ist vor allem für bestimmte Leukämie-Viren, für das Epstein-Barr-Virus, das für die Verursachung des Burkitt-Lymphoms in Afrika und des Nasopharynxkarzinom in Asien verantwortlich ist, und das humane Papillomavirus, das an der Entstehung des Gebärmutterhalskarzinoms beteiligt ist, bekannt. In diesen Situationen können die Viren sowohl als Karzinogen als auch als Kokarzinogen wirken.

6. Immunsuppression
Auch eine Unterdrückung des körpereigenen Immunsystems, z.B. durch Immunsuppressiva nach Organtransplantation oder durch eine HIV-Infektion, kann es zur vermehrten Entstehung von bösartigen Tumoren kommen. Die Immunsuppression führt selbst nicht zu einer bösartigen Umwandlung der Zellen, allerdings verhindert sie die effektive Vernichtung der bereits entstandenen, einzelnen Tumorzellen durch die körpereigene Immunabwehr. Bei Patienten, deren Immunsystem unterdrückt ist, lassen sich vermehrt Non-Hodgkin-Lymphome und Kaposi-Sarkome nachweisen.

Trotz all dieser Erkenntnisse, die man über mögliche Krebsursachen gewonnen hat, hat die Forschung die Frage, warum ein bestimmter Mensch an einem bösartigen Tumor erkrankt ist, in der Mehrzahl der Fälle noch keine befriedigende Antwort gefunden.