| Archiv |     Ausgabe Juli 2002

Körper & Seele   
 Prof. Dr. med. G.J. Wiedemann
Fatigue: Wege aus dem therapeutischen Nihilismus

Ignoriert, unterschätzt, als unabänderlich hingenommen: Fatigue bei Tumorpatienten ist ein Thema, das in der Onkologie bisher keinen angemessenen Stellenwert hat. An der Größenordnung des Problems kann es nicht liegen: Mindestens zwei von drei Tumorpatienten leiden zumindest in der Phase intensiver Therapie unter Fatigue. Bei rund 30 Prozent der Patienten entwickelt sich die lähmende Antriebslosigkeit und Erschöpfung sogar zu einem über Monate oder gar Jahre anhaltenden Problem. Dabei ist Fatigue viel mehr als einfache Müdigkeit. Der Begriff beschreibt vielmehr einen Zustand völliger körperlicher, psychischer, emotionaler und geistiger Erschöpfung. Der Stellenwert dieses Energieverlustes wird von Patienten deutlich höher bewertet als von Ärzten. Patienten erleben Fatigue im Alltag häufig belastender als Schmerzen oder Abmagerung, während Onkologen der Beeinträchtigung durch Schmerzen höhere Bedeutung beimessen.


Fatigue: ein häufiges Problem bei Krebserkrankungen
Fatigue: ein häufiges Problem bei Krebserkrankungen
Noch Jahre nach der Erkrankung leiden viele Patienten unter anhaltender Fatigue. Angesichts des deutlich beeinträchtigten Befindens fällt es dem Patienten oft schwer, tatsächlich an eine Heilung zu glauben. Dazu kommt: Rund 40 Prozent der von Fatigue Betroffenen erhalten, britischen Erhebungen zufolge, keinerlei Rat oder therapeutisches Angebot vom behandelnden Arzt. Weitere knapp 40 Prozent werden lediglich mit dem Ratschlag bedacht, sich zu schonen. Ein therapeutisches Konzept, das sich den möglichen vielfältigen Ursachen des Fatigue-Syndroms stellt, scheint also nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel zu sein.
Mögliche Ursachen für den extremen Erschöpfungszustand gibt es zuhauf: Nebenwirkungen der Chemo-, Strahlen- oder Immuntherapie bzw. Nachwirkungen eines operativen Eingriffs spielen ebenso eine Rolle wie Infekte, Flüssigkeitsmangel und Mangelernährung bei Abmagerung. Weiterhin haben Verschiebungen der Blutsalze (verminderte Gehalte an Natrium, Kalium und Calcium), Unterzuckerung sowie die tumor- oder therapiebedingte Freisetzung von Zellbotenstoffen wie der Tumor-Nekrose-Faktor oder Interleukine einen Einfluss auf die Fatigue-Erkrankung. Alle Faktoren können eine Fehlregulation der Synthese des körpereigenen Hormons Erythropoetin auslösen und so die Blutbildung stören. Dies führt zur Blutarmut, die sich in einem Mangel an roten Blutkörperchen äußert und als einer der wichtigsten ursächlichen Faktoren der Fatigue gilt. Da die roten Blutkörperchen für den Sauerstofftransport im Blut zuständig sind, ist die Sauerstoffversorgung umso schlechter, je weniger rote Blutkörperchen vorhanden sind. Müdigkeit und ein ständiges Schwächegefühl – die Fatigue – stellen sich ein. Folgerichtig kann eine Erythropoetin-Behandlung in der Regel deutlich die Fatigue-Symptomatik verbessern: Sie stimuliert das Knochenmark, wieder rote Blutkörperchen zu produzieren und kann dadurch die Fatigue lindern. Dennoch kann man Fatigue nicht mit Blutarmut gleichsetzen. Viele Faktoren sind an der Entstehung des Erschöpfungszustandes beteiligt. Wichtig ist nicht zuletzt auch die psychologische Betreuung des Patienten, denn Depressionen und nicht geglückte Krankheitsbewältigung können die Fatigue beeinflussen.