Körper & Seele   
 Wahrheit und Wahrhaftigkeit
Über den Umgang mit der Wahrheit am Krankenbett

Ein Abendgebet in einer Krebsklinik. Eine Frau gesellt sich in den kleinen Kreis der betenden Gruppe. Während wir singen, hören wir ihr Seufzen, das immer stärker wird. Am Ende des Abendgebetes verabschieden wir uns – und nur eine Frau bleibt sitzen – es ist diese Frau. Ich setzte mich still neben sie, da beginnt Sie schon zu reden. - (Kennen Sie vielleicht auch jemanden, der in Not ist?)

"Mein Lebensgefährte liegt einige Räume weiter im Sterben – und dabei habe ich ihm noch soviel zu sagen!" sagt sie. Dann lacht sie und sagt: "Sie glauben gar nicht, wie wir witzeln, wenn wir uns unterhalten. Wir scherzen fast nur... obwohl mir zum Weinen ist. Ich trage mit, was er zu ertragen hat... bis er dann meist für eine Weile einschläft. Nun wird dieses Spaßen im Angesicht des Todes immer schwerer für mich. Jedes scherzhafte Wort ist für mich Vergeudung für die vielen unersetzlichen Worte der Wahrheit, die wir uns in der verbleibenden Zeit noch schenken könnten." Was ist Wahrheit, frage ich mich? Ich bemerke, wie die Frau förmlich auftankt, während sie mir ihr Herz ausschüttet. Dann spreche ich mit ihr über Palmsonntag, Ostern und die Zukunft, über das Jahr und die Jahre, die kommen und sie künftig an diese Zeit erinnern lassen. Obwohl wir uns noch vor Minuten völlig fremd waren, stelle ich fest, dass die Begegnung mit ihr geprägt ist durch tiefes Vertrauen. Wir schweigen und sprechen befreit einfach aus dem Herzen. Und uns ist klar, so einfach ist es nicht, die Situation in den Griff zu bekommen... und morgen ist Gründonnerstag!

Die Wahrheit heißt, ihr Lebensgefährte wird wohl sterben müssen, aber wie können beide wahrhaftig in dieser von Liebe geprägten und gelebten Beziehung in den letzten Stunden damit umgehen. Jeder Mensch geht anders mit seinem Leben, wie mit dem Tode um. So individuell wie jeder einzelne geboren ist, zeigt sich auch die Gestaltung des letzten Lebensabschnittes, des Sterbens. Wahrheit kann da manche Brücke zum Einsturz bringen und so ist jeder sterbende Mensch der Maßstab, ob und in wie weit er die volle Wahrheit zulässt und ertragen kann.

Ein Fluss kennt viele Brücken - doch nur wenige die warhaftig tragen...


Wie ein Architekt, gestaltet jeder Einzelne selbst seine Brücke ins "Jenseits". Gerade schwerkranke Menschen wissen sehr genau um ihre Situation. Doch diese Auseinandersetzung mit der eigenen herannahenden Endlichkeit stürzt viele Menschen in eine Phase starker Auseinandersetzungen mit sich selbst... und häufig auch mit anderen und verlangt beiden vieles ab. Den richtigen Zeitpunkt zu wählen für ein wahrhaftiges Gespräch, das kann meist nur vom Patienten selbst aus geschehen. Ist er hierzu vielleicht nicht mehr in der Lage, wie im beschriebenen Fall, kann es besser sein, im Vertrauen auf den Sterbenden die Rolle bis zum Ende weiter zu spielen. Es gilt hier im gegenseitigen Miteinander besonders sensibel für Signale zu sein, die man vom anderen empfangen kann.

Noch wichtiger als das Aussprechen jeder Wahrheit ist der Umgang und die liebevolle Begegnung der Menschen untereinander. Ein Händedruck, ein Lächeln, ein Blick kann mehr aussprechen als ganze Bücherbände zu vermitteln wissen. Eine Blume, ein Gebet, ein Streicheln, ein Innehalten, es gibt vieles, das man in dieser Situation entdecken und nutzen kann. Erst dann kann man sich "Wahrhaftig" getragen fühlen und erfährt eine innere Stärkung, um beim Gang auf die Brücke vor sich selbst bestehen und den Gang über die Brücke wirklich gehen zu können.

Es ist Sonntag Abend nach Ostern, als das Telefon klingelt und mich die Frau anruft, mit der ich vor 10 Tagen sprach. Sie gibt mir die letzten Worte ihres Lebensgefährten weiter, bevor er einschlief: "Ich muss jetzt gehen und Dich auf Deinem Wege gehen lassen...!". Damit hatte er es doch geschafft, mit ihr über das Unausweichliche zu sprechen. Die Frau schien in ihrer stillen Trauer sichtlich befreit. Sie hatte Gleichgewicht und Ruhe gefunden – Gott sei Dank! (ch)