Patientenforum   
 

Off-Label-Use
Zulassungsüberschreitender Einsatz von Medikamenten in der Krebsbehandlung

Die angespannte finanzielle Situation im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherungen hat in den letzten beiden Jahren zu einer neuen Art der verstecken Rationierung geführt. Manche Krankenkassen lehnen die Erstattung von Medikamenten bei nicht zugelassener Indikation – den sogenannten Off-Label Use – ab. Ärztinnen und Ärzte in Praxen oder ermächtigten Krankenhausambulanzen, die solche Medikamente für ihre Patienten rezeptiert haben, werden von manchen Krankenkassen in Regress genommen. Bei rechtskräftiger Feststellung eines solchen Regresses müssen die Ärztinnen und Ärzte den Versicherungen die Medikamentenkosten aus eigener Tasche erstatten.

Worum handelt es sich bei Off-Label-Use von Medikamenten?

Es handelt sich um eine Therapie entsprechend des Standes des medizinischen Wissens mit zugelassenen Medikamenten außerhalb der engen Zulassungsindikation (z.B. kann ein Medikament für Lungenkrebs eine sehr gute Wirksamkeit bei Brustkrebs haben). Die Erstattungsfähigkeit solcher Verordnungen im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen einzuschränken mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Es würde aber die Versorgungsqualität in Deutschland und damit die gute Versorgung der Patientinnen und Patienten massiv einschränken.

Onkologischer Versorgungsalltag

Bei dem sogenannten Off-Label-Use handelt es sich nicht um eine geheime Leistungsausweitung durch die Ärzte, sondern um die Versorgungsnormalität in der Onkologie und vieler anderen Fachgebiete. Der Off-Label Use von Medikamenten stellt schon immer eine wesentliche Säule der Behandlung von Krebspatienten dar. Er ist nicht selten, sondern häufig. Zahlen aus den Vereinigten Staaten belegen dies. Die amerikanische medizinische Vereinigung (American Medical Association) gibt an, dass 40-60% aller Verordnungen in den USA "Off-Label" sind. Das amerikanische Gesundheitsamt (Food and Drug Administration) hält die Off-Label-Behandlung für rational und angemessen. Der amerikanische Kongress hat festgelegt, dass Medicare (vergleichbar der gesetzlichen Krankenversicherung) im Krebsbereich Off-Label-Therapien erstatten muss. Die Erstattungsfähigkeit dieser Medikamente ist auch in Deutschland bis vor zwei Jahren nie beanstandet worden.

Zulassungen

Das dahinter liegende Problem ist, dass die Medikamente heutzutage nur für einen schmalen Indikationsbereich (Tumorart) zugelassen werden. Den Antrag auf Zulassung stellt das pharmazeutische Unternehmen. Behandelnde Ärzte oder Gesundheitsbehörden haben darauf keinen Einfluss. Nach der Zulassung stellt sich dann häufig durch die medizinische Forschung heraus, dass das entsprechende Medikament auch bei anderen Erkrankungen sehr effektiv ist und nach dem Stand des medizinischen Wissens verordnet werden müsste.

Leistungsanspruch der Versicherten

Als Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung haben Sie als Patient zunächst einen Leistungsanspruch gegenüber der Krankenkasse. Dieser wird im Sozialgesetzbuch geregelt. Demnach müssen die Krankenkassen dem versicherten Patienten die Behandlung, die dem Stand des medizinischen Wissens unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschrittes, die zudem dem Gedanken humaner Krankenbehandlung verpflichtet ist, gewährleisten. Diese Verpflichtung, die zunächst die Krankenkassen gegenüber dem Patienten haben, haben die Krankenkassen an die Kassenärztlichen Vereinigungen und damit an die Ärzte weitergegeben. Damit hat auch jeder Kassenarzt die Verpflichtung jeden Patienten nach diesen Grundsätzen zu behandeln. Darüber hinaus hat er das sogenannte Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. Handelt der Kassenarzt nicht nach diesen Grundsätzen verstößt er zum einen gegen seine Pflichten aus dem Sozialgesetzbuch. Unter Umständen verstößt er aber auch gegen Vorschriften des bürgerlichen Gesetzbuches oder sogar des Strafgesetzbuches (z.B. unterlassene Hilfeleistung).

Bundessozialgerichtsurteil

Nach einiger Zeit der Unruhe und der Irritationen hat das Bundessozialgericht am 19. März 2002 eine Entscheidung zum sogenannten Off-Label-Use von Arzneimitteln getroffen. Das höchste Sozialgericht kommt zu der Entscheidung, dass ein Arzneimittel grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden darf, wenn sich die arzneimittelrechtliche Zulassung nicht auf die betreffende Indikation erstreckt. Das Gericht definiert aber gleichzeitig Ausnahmen. Es erkennt insbesondere an, dass im medizinischen Alltag ein dringendes Bedürfnis, nach zulassungsüberschreitendem Einsatz von Arzneimittel besteht. Diesem Bedürfnis werde zur Zeit durch die arzneimittel und sozialrechtlichen Regelungen nicht Rechnung getragen. Deswegen kommt das Bundessozialgericht zu dem Ergebnis, dass die bestehenden rechtlichen Defizite nicht dazu führen dürfen, dass dem Versicherten, also den Patientinnen und Patienten, unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapien vorenthalten bleiben. Das Gericht stellt daher Kriterien auf, nach denen der Off-Label-Use eben doch zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherer in Betracht kommt und sogar kommen muss. Ein Off-Label-Use ist demnach gestattet, sogar gefordert, wenn die drei folgenden Bedingungen erfüllt sind: 1. Es muss sich um eine lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachweislich beeinträchtigenden Erkrankungen handeln, bei der 2. keine andere Therapie verfügbar ist und bei der 3. auf Grund der Datenlage, die begründetet Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Erfolg zu erzielen ist. Damit kann der von einigen Krankenkassen vertretene Standpunkt, dass Off-Label-Therapien in keinem Fall erstattungsfähig seien, nicht aufrecht erhalten werden. Das Urteil weist einen Weg, der für die Ärztinnen und Ärzte und damit für die Patientinnen und Patienten eine Lösung des Off-Label-Problems weist.

Expertenkommission

Gleichzeitig hat auf Grund des politischen Druckes der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG), der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO), des Berufsverbandes der niedergelassenen Hämatologen und internistischen Onkologen in Deutschland (BNHO) sowie von Patientenselbsthilfegruppen das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung eine Expertenkommission zum Off Label beim Bundesamt für Pharmazeutische Produkte eingesetzt. Diese Expertenkommission bestehend aus Vertretern der Krankenkassen und der Leistungserbringer, also der Krankenhausärzte und niedergelassenen Ärzte, soll Feststellungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Anwendungen von zugelassenen Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen Indikationsbereichs treffen.

Fazit

Off Label Use Foto: Gerhard-Druck
Welche Auswirkungen das Bundessozialgerichtsurteil tatsächlich auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten hat, wird die Zukunft zeigen. Diese wird im Wesentlichen davon abhängen, wie restriktiv die Krankenkassen die Kriterien des Urteils interpretieren. Auf der anderen Seite werden sich die Ärztinnen und Ärzte an die Kriterien des Bundessozialgerichtsurteils halten. Dies haben sie im Wesentlichen auf Grund des Wirtschaftlichkeitsgebotes des Sozialgesetzbuches auch in der Vergangenheit bereits getan. Die in der Onkologie tätigen Ärztinnen und Ärzte hoffen sehr, dass die Behandlungsmöglichkeiten für Kassenpatienten in Zukunft nicht weiter eingeschränkt werden. Gerade im Bereich der Onkologie, der Behandlung von Krebspatientinnen und -patienten, wäre aus unserer Sicht eine Zwei-Klassen Medizin unerträglich.