„Neutropenien“ – erkennen, verstehen und behandeln

Foto Dr. KohlFoto PD Dr. HermannKrebsmagazin – Ausgabe Mai 2010
Interview mit
Dr. Detlev Kohl Hämatologie und Onkologie, Abteilung für Innere Medizin, Ammerlandklinik, Westerstede
Priv. Doz. Dr. Robert Hermann Zentrum für Strahlentherapie und Radioonkologie,  Ärztehaus an der Ammerlandklinik, Westerstede


Nebenwirkungen der Chemo- und Strahlentherapie:

Ständig werden wir als Menschen von infektiösen Krankheitserregern befallen. Ist das problematisch?
Nein, normalerweise nicht. Krankheitserreger wie Bakterien, aber auch Pilze oder Viren, befinden sich überall in der Umgebung. Durch die natürlichen Körperöffnungen und durch Wunden in der Haut dringen sie in den menschlichen Organismus ein. Hier werden sie von der Immunabwehr (den weißen Blutkörperchen) bekämpft oder kontrolliert. Im Darm gibt es beispielweise immer eine Besiedlung von Bakterien, die sich jedoch nicht unkontrolliert vermehren dürfen.

Wenn nun Bakterien in den menschlichen Körper eingedrungen sind, was passiert dann?
Die neutrophilen Granulozyten – ca. 2/3 aller weißen Blutkörperchen – , können die Bakterien „fressen“ und sie so zerstören. Dadurch wird meist eine Ausbreitung der Infektion im menschlichen Körper verhindert.

Kann man die Anzahl neutrophiler Granulozyten im Blut messen?
Durch eine einfache Untersuchung des Blutes, bei der alle Blutzellen in einer Blutprobe ausgezählt werden. In dem so erstellten „Blutbild“ lässt sich feststellen, wieviele neutrophile Granulozyten der Körper zur Verfügung hat. Ein gesunder Mensch verfügt über 1.800 bis 8.000 neutrophile Granulozyten pro Mikroliter Blut.

Ist denn ein Mangel an neutrophilen Granulozyten problematisch?
Ein Wert unter 1.500 neutrophile Granulozyten pro Mikroliter Blut wird „Neutropenie“ genannt. Perse macht dies alleine keine klinischen Symptome. Fällt die Anzahl unter 500 (sog. Agranulocytose), führt dies – auch abhängig vom klinischen Zustand des Patienten – zu einer erhöhten Infektionsanfälligkeit. Darüber hinaus ist zur Einschätzung der Gefährlichkeit einer Neutropenie auch der erwartete Zeitraum wichtig, kurz gefasst: je länger die weißen Blutzellen stark erniedrigt sind, je gefährlicher ist die Situation.

Wie kann eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung eine Neutropenie auslösen?
Die neutrophilen Granulozyten werden ständig „verbraucht“ und müssen deshalb unablässig neu gebildet werden, bei einem gesunden Organismus etwa 100 Millionen pro Minute. Dies geschieht durch spezielle Zellen im Knochenmark, den sog. Stammzellen. Diese können durch eine Chemo- oder Strahlenbehandlung auf verschiedenen Wirkwegen geschädigt werden. Es bleibt dann der Nachschub für den Körper aus, und die Anzahl dieser Zellen im Blut fällt ab. Die tiefsten Werte werden häufig 1 bis 2 Wochen nach einer Chemotherapiegabe gemessen, dann nämlich wenn die bereits gebildeten Granulocyten bei einer Lebensdauer von 8 – 12 Tagen verbraucht sind. Wenn sich anschließend die Knochenmarkstammzellen wieder erholen, steigen auch die Blutwerte wieder an. Deshalb wird zwischen den einzelnen Chemotherapiegaben häufig ein behandlungsfreies Intervall von mehr als 2 Wochen gelassen

Wenn während einer Chemotherapie eine Neutropenie eintritt, was sollte dann beachtet werden?
Nun, zunächst muss das Blutbild gefährdeter Patienten regelmäßig kontrolliert werden, um frühzeitig einen Abfall der neutrophilen Granulozyten zu erkennen. Bei einem deutlichen Abfall ist die erste Maßnahme, die Gabe des nächsten Zyklus Chemotherapie solange zu verzögern, bis sich das Knochenmark wieder erholt hat. Um einen kleinen Infekt, der sich unter Umständen rasch ausbreiten kann, frühzeitig zu entdecken, sollten betroffene Patienten auf klinische Zeichen achten. Bei Fieber über 38° mit oder ohne Schüttelfrost, neu aufgetretenem Husten, bei Halsschmerzen oder Entzündungen der Mundschleimhaut, auch bei Hautveränderungen, Ohrenschmerzen, Blasenentzündungen oder auch bei Durchfällen sollte der behandelnde Arzt zügig informiert werden. Bei bakteriellen Infektionen wird dann eine Behandlung mit Antibiotika eingeleitet.

Kann man denn bakteriellen Infektionen während einer Neutropenie durch Hygienemaßnahmen / Medikamente vorbeugen?
Das Risiko einer Infektion kann durch verschiedene Verhaltensregeln reduziert werden. Auf regelmäßiges Händewaschen (vor dem Essen, nach der Toilettennutzung) sollte geachtet werden. Weiterhin sollten Speisen vermieden werden, die viele Bakterien enthalten können. Auch sollte man keinen Kontakt zu Personen haben, die gerade an Erkältungen oder anderen Infektionen leiden. Auch Hautverletzungen sollte man vermeiden, also nicht barfuß laufen. Männer sollten sich nicht nass, sondern trocken (Rasierapparat) rasieren; das Zähneputzen sollte zur Schonung der Mundschleimhaut mit weichen Zahnbürsten erfolgen. Darüber hinaus ist bekannt, dass ein Großteil der Infektionserreger neutropenischer Patienten aus der eigenen mikrobiellen Flora stammt. Teil der Prophylaxe mit der sog. selektiven oralen Darmdekontamination ist es somit, die Besiedlung des Patienten mit körpereigenen Erregern durch Antibiotika und Medikamente gegen Pilze zu reduzieren.

Gibt es Medikamente, die einer Neutropenie vorbeugen können?
Ja, die gibt es. Die Produktion neuer neutrophiler Granulozyten wird im Knochenmark durch einen Wachstumsfaktor geregelt, der auf Englisch granulocyte colony stimulating factor (abgekürzt G-CSF) heißt. Dieser ist als Medikament verfügbar. Er kann sowohl – als Intervention – im Falle einer Neutropenie gegeben werden, um zu einer schnelleren Verbesserung des Blutbildes zu führen; die Neutropeniephase wird damit um ca. 4-5 Tage reduziert. Bei Chemotherapien, bei denen das Risiko einer Neutropenie mit Fieber a priori über 20 % liegt, sollte er aber von vorneherein prophylaktisch gegeben werden, um die Komplikationen und damit zusammenhängende Therapiepausen zu vermeiden.

Hat denn die Gabe von G-CSF auch Nebenwirkungen?
Wie bei allen Therapien kann es natürlich auch bei der Behandlung mit G-CSF zu unerwünschten Begleiterscheinungen kommen. Als häufigste Nebenwirkung treten leichte bis mittelschwere Knochenschmerzen auf, die in aller Regel gut mit einem Schmerzmittel (z.B. Paracetamol) behandelt werden können. Seltener werden Kopfschmerzen oder leichte Hautausschläge gesehen.

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